Tut, tut, tut, die Eisenbahn wer will mit, der (er-)hängt sich dran…

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Was ist der schrecklichste Ort Indiens? – Richtig, der Bahnhof.

Weder die Slums, noch die öffentlichen Toiletten sind so schlimm wo dieser Ort. Am Bahnhof tummeln sich nicht nur tausende Inder, nein sie campieren hier! Falls Du jemals in Indien Zugfahren möchtest, besorg Dir die Fahrkarte in einem der vielen Reisebüros und zwar so früh wie nur möglich. Falls Du Dich doch zum Bahnhofsschalter trauen solltest und beim besten Willen fällt mir hier als Grund nur das Drehen eines Horrorfilms ein, dann nimm Begleitschutz mit. In jedem Bahnhof gibt es mehrere Schalter an welchen sich die Angestellten hinter dicken Panzerglasscheiben vor der wilden Meute verbarrikadieren. Meistens sollte ein Schalter für Frauen, Journalisten und Touristen vorbehalten sein, wohingegen der andere Schalter für Jedermann ist. Da sich an letzterem ungelogen hunderte, ausschließlich männliche Zeitgenossen um die verbleibenden freien Tickets prügeln, kommt es nicht selten vor, dass diese versuchen wildfremde Frauen zu akquirieren, welche dann am ersten Schalter, an der um einiges kürzeren Schlange, für sie anstehen. Und anstehen bedeutet keineswegs in Reih und Glied. Jeder Quadratzentimeter wird dazu benutzt seinem Anliegen Ausdruck zu verleihen, sei es mit den Ellenbogen oder mit weit ausgestrecktem Gesäß.

Gleis 1

Nun ja, solltest Du irgendwie an eine Fahrkarte gekommen sein, dann darfst du dich am Bahnsteig auf folgenden Anblick gefasst machen. Obwohl, eigentlich sitzen oder liegen bereits auf dem Weg zu den Gleisen überall Menschen auf dem Boden. Ein wahrer Hindernislauf! Am Bahnsteig gibt es diverse Essensbuden für die ausgehungerte Menge. Natürlich schaffen es nicht alle Essensbestandteile bei dem Schlingen in den Rachen, aber wen juckt das schon. Was bei uns Chips oder Kekskrümel im Bett sind, das sind bei den Indern eben Reis und Nudelreste auf dem Boden. Warum der Vergleich mit dem Bett? Nun ja, nach getaner Arbeit breiten sich die meisten natürlich wieder auf dem Boden aus. Und da kann es schon mal vorkommen, dass die Essensreste sich auf den Klamotten oder am besten noch im Haar wiederfinden lassen. Was oben rein kommt will natürlich irgendwann auch irgendwo wieder raus. Dementsprechend duftet es am Bahnhof leider nicht nach Chanel N°5, sondern nach allerlei anderem verwesendem. Ach ja, auf jeden zweiten Inder kommt mindestens ein Hund, welche sich die Essensreste mit den Klamotten teilen. Welches Getier zur späten Stunde herumwuselt, willst Du lieber nicht wissen.

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Aber was machen 2 Motorradweltreisende überhaupt am Bahnhof?

Wie Du weißt haben wir nur noch 14 Tage um von dem fast westlichsten Punkt Indiens, zu dem fast östlichsten Punkt zu gelangen. 14 Tage und 2.300 km auf indischen Straßen sind gleichbedeutend wie eine unheilbare Krankheit: Heftiges Leiden mit einer sehr großen Wahrscheinlichkeit das Ganze nicht zu überleben. Nur alleine deshalb möchten wir die Möglichkeit in Erwägung ziehen, uns samt Motorrädern auf einen Zug zu verladen, um das Risiko eines jähen Endes auf offener Straße so gut es geht zu minimieren. In Indien ist es gang und gäbe das sämtliche Hab und Gut im Zug quer durch das Land zu karren. Allerdings fahren über 99,9% keine so großen Maschinen wie wir. Generell gibt es 2 Möglichkeiten ein Bike in Indien zu verladen: Möglichkeit Nr. 1, Du deklarierst dein Bike als „Handgepäck“. Das ist die vermutlich günstigere Alternative. Hierfür brauchst du zunächst ein Zugticket, mit welchem Du dann zum jeweiligen „Parcel Office“ gehst, am besten einmal 2-3 Tage vor der Abfahrt, dann nochmal am Tag davor und dann gleich nochmal am eigentlichen Tag mit bereits schön verpacktem Bike.

Die Frage ist allerdings, ob in Deinem Zug auch genug Platz für dein Motorrad ist. Manche Züge haben gar kein gesondertes Gepäckabteil, manch andere sind schon voll bis oben hin, bis sie bei Dir eintreffen. Daher gehen wir auf Nummer sicher und geben die Bikes getrennt von uns auf. So vermeiden wir den Super Gau, dass die Maschinen am Gleis zurückbleiben. Sorry Bikes, mitgehangen, mitgefangen! Am Ende haben wir aufgehört zu zählen, wie oft wir zum Bahnhof gefahren sind. An den Anblick vor Ort konnten wir uns dennoch nie gewöhnen. Immer wieder haben wir uns zwischendrin gefragt, ob wir nicht doch lieber selbst fahren sollen und ohne den unerbittlichen Kämpfer Naaveen an unserer Seite hätten wir das vermutlich auch gemacht. Unser Plan war es die Motorräder 5 Tage vor unserer Abfahrt zu verladen, so hatten wir einen Zug Puffer, falls irgendetwas doch nicht so klappen sollte wie erhofft. Unsere Tickets hat uns unser Freund Naaveen über einen Bekannten besorgt, denn am Schalter gab es nur noch Warteplätze. Für die Bikes hat uns der „Parcel Officer“ am Tag der Abfahrt einbestellt. Die Zeit bis dahin nutzen wir, um die Motorräder neu zu verkleiden.

Tag X

Am alles entscheidenden Tag geht es ohne Windschutzscheibe und Außenspiegel wieder mal wohin? – Natürlich zum Bahnhof. Auf der Fahrt dorthin blinken wir zunächst für jeden Richtungswechsel, bis uns dann einfällt, kann ja eh keiner sehen, unter dem ganzen Schaumstoff und der Pappe. Bisher war der „Parcel Officer“ einigermaßen umgänglich, als wir aber mit den erforderlichen Kopien 20 min vor Feierabend eintreffen schlägt seine Laune plötzlich um. Denn in 20 min ist er unmöglich fertig und 10 min überziehen geht gar nicht. Solche Tugenden haben wir in ganz Indien bisher vermisst und jetzt so kurz vor dem Ziel soll uns dies das Genick brechen?! Mit Bitten und Flehen bekommen wir ihn dazu die Unterlagen auszufüllen, ob die Bikes heute allerdings verladen werden kann er uns nicht versprechen! Durch die Kolonialisierung der Briten wurde zumindest das indische Bahnsystem so stark bürokratisiert, dass hier kein Normalsterblicher durchblickt. Nach mehrfachem hin und her bekommen wir den Namen vom Verlademeister und eine Uhrzeit, an welcher wir nochmals herkommen sollen. Die Bikes, samt Gepäck bleiben am Gleis stehen.

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Warten und Milktea trinken

Natürlich ist kein Zug in Indien pünktlich. Selbst bei mehrstündigen Verspätungen, wie es hier der Fall war, kommt keiner auf die Idee eine Durchsage zu machen. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als uns die Nacht am Bahnhof um die Ohren zu schlagen. Nachdem wir für 4 Verlader bezahlt haben, weil angeblich unsere Motorräder so schwer sind, aber nur einer auftaucht, der mit seinen Haarspitzen gerade mal so den Lenker erreicht, schieben wir die Bikes eigenhändig quer über alle Gleise. Plötzlich springen alle wie von der Tarantel gestochen auf. Mist, nur Fehlalarm! Immerhin das Gleis sollte stimmen. Langsam wir es frisch, kann ja keiner ahnen, dass wir bis in die Morgenstunden auf den Zug warten müssen.

„Hey soldier boy get out of my way!“

Endlich, grelle Lichter am Horizont und ein Gehupe, dass es Dir Dein Trommelfell wegbläst, aber irgendwie muss auch der letzte Inder, der auf dem Gleisbett sein Geschäft verrichtet, dazu ermahnt werden, die Hose wieder hoch zu ziehen und sich auf den Rückweg zu begeben. Glücklicherweise treffen nun doch 1-2 Helfer ein, allerdings hat dieser Zug eine ungemütliche Überraschung für uns parat: Im Prinzip ist Jammu der Nordwestlichste Bahnhof, das bedeutet es gibt vorher keine andere Station, dies wiederum würde heißen, der Zug müsste absolut leer bei uns ankommen. Ätschibätsch, falsch gedacht! Vor Jammu befindet sich noch ein Militärbahnhof. Und die vielen Soldaten, die bei der Flutkatastrophe in Kaschmir geholfen haben, wollen natürlich auch wieder heim. Samt Gepäck! Für uns heißt das: „Ihr kommt hier nicht rein!“. Die Gepäckabteile sind von innen verriegelt und außen stehen ein paar gut gebaute Soldaten und versperren uns drohend den Weg. Gegen diese Jungs kommst Du nicht an, selbst auf dieser so wichtigen Mission. Immerhin bekommen wir den Verlademeister dazu den Zug an der Weiterfahrt zu hindern, solange unsere Bikes noch nicht verladen sind. Das Geschrei ist groß, aber kurze Zeit später ertönt aus seinem Funkgerät eine aufgeregte Stimme. Wir sollen so schnell, wie es nur geht mit Sack und Pack zum anderen Ende vom Zug. Blöd nur, dass wir den Leuten verklickert haben, dass kein Tropfen Sprit mehr in den Maschinen ist, so heißt es schieben. Erschöpft erreichen wir das andere Ende und siehe da, dieses Minigepäckabteil haben die Soldaten nicht entdeckt, es gibt zwar nicht viel Platz, aber für unsere Bikes reicht‘s. Man war das knapp!

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